Aus einfachen Verhältnissen stammend, trat Thaddäus Rinderle als junger Mann ins Schwarzwaldkloster St. Peter ein. Doch sein Leben war nicht das eines gewöhnlichen Mönchs: Er machte als Mathematik-Professor Karriere, förderte das Uhrengewerbe der Region und schuf ein technisches Meisterwerk, das bis heute fasziniert.
Es war die Zeit, in der Immanuel Kant die Grenzen des Wissens und des Glaubens definierte, Joseph-Louis Lagrange sein Grundlagenwerk zur theoretischen Physik vorlegte und ein politisches Großereignis vor der Tür stand: die Französische Revolution. Kurzum – es war eine Epoche des Umbruchs und des Aufbruchs auf kulturellem, auf wissenschaftlichem und auf politischem Gebiet, in der Thaddäus Rinderle – ein einfacher Mönch aus dem Schwarzwald – mit einer bemerkenswerten Eigenkreation an die Öffentlichkeit trat: 1787 präsentierte der damals 39-Jährige eine astronomisch-geographische Weltzeituhr, die ihresgleichen suchte.
Die Uhr zeigte nicht nur die Ortszeit, sondern ebenso die Uhrzeit ferner Länder an. Und das war nicht alles: Auch die Bewegungen der Himmelskörper waren an Rinderles Uhr abzulesen. „Wo die Sonne gerade auf- oder untergeht, wo Tag, wo Nacht ist, wieviele Stunden Tag und Nacht an jedem beliebigen Orte dauern, wo es gerade Mittag ist, […] welche Stellung der Mond zur Erde und zur Sonne hat, […] welche Fixsterne augenblicklich zu Basel am Himmel stehen […], dieses alles beantwortet die Uhr von Rinderle“, schrieb Adolf Kistner 1924.
Sogar Mond- und Sonnenfinsternisse ließen sich mit Hilfe der Uhr vorhersagen. Sie war somit weit mehr als ein einfacher Gebrauchsgegenstand, sie war ein wissenschaftliches Instrument – und damit Abbild einer Zeit, in der das Verständnis der Naturvorgänge revolutioniert wurde und die „Vermessung der Welt“ in vollem Gange war.
Zugleich verrät Rinderles Meisterwerk den religiösen Hintergrund des Urhebers: Auf einem äußeren Ring der Uhr ist jedem Tag des Jahres der Name eines Heiligen aus dem Kirchenkalender zugeordnet. Die Uhr wirft damit ein Schlaglicht auf Rinderles Persönlichkeit: Wissenschaftliche Exaktheit und technische Meisterschaft verbanden sich mit tiefer Frömmigkeit.
Rinderle, der ursprünglich auf den Namen Matthias getauft wurde, wurde am 3. Februar 1748 in Staufen bei Freiburg geboren. Er wuchs in einer bäuerlich geprägten Welt auf – auch sein Vater war Landwirt. Da die Begabung des Jungen schon früh aufgefallen sein muss, durfte er das Gymnasium des Benediktiner-Klosters St. Peter im Schwarzwald besuchen. Mit 18 Jahren, nach dem Ende der Schulzeit, trat er als Novize in die Klostergemeinschaft ein. Und ein Jahr später legte er das Ordensgelübde ab – von jetzt an trug er den Vornamen Thaddäus. Sein Leben hatte er damit dem Glauben und dem Dienst an der Kirche verschrieben.
Doch trotz seiner Frömmigkeit interessierte sich der junge Mann weniger für die Theologie als für die exakten Naturwissenschaften und die Mathematik. Auch das war nicht ganz ungewöhnlich: Die Aufklärungsepoche mit ihrem rationalistischen Geist entfaltete ihre Wirkung selbst in den kirchlichen Institutionen. An Gott zu glauben, zugleich aber an den wissenschaftlichen Fortschritt, wurde nicht (mehr) als zwingender Gegensatz gesehen. Auch der damalige Abt von St. Peter, Philipp Jakob Steyrer, war ein Vertreter dieser neuen Geisteshaltung.
Steyrer förderte Rinderles Begabung und schickte ihn 1770 vorübergehend zum Mathematik-Studium an die Universität Salzburg. Von dort zurückgekehrt, empfing Rinderle 1772 die Priesterweihe. Doch die Mathematik ließ ihn ebenso wenig los wie die Physik und die Astronomie. Da Rinderle auch ein praktisch denkender Mensch war, suchte er früh schon nach technischen Anwendungsmöglichkeiten. So betrieb er eine eigene Uhrenwerkstatt und beriet die Uhrenmacher des Umlands – unter anderem entwickelte er einen präzisen Spindelbohrer, der die bis dahin verwendeten Handbohrer ersetzte. Auch deshalb ging er als „Uhrenpater“ in die Geschichte ein.
Rinderles Meisterstück war die astronomisch-geographische Uhr aus dem Jahr 1787, die bis heute im Deutschen Uhrenmuseum in Furtwangen zu bestaunen ist. Die Bewunderung, die sie erregte, war ein wesentlicher Grund dafür, dass Rinderle 1788 auf den Lehrstuhl für Angewandte Mathematik und Praktische Geometrie an der Universität Freiburg berufen wurde. Rinderle hielt seine Vorlesungen in der Mönchskutte und blieb Angehöriger seines Klosters – um ein Haar wäre er 1797 gar zum Abt gewählt worden. Allerdings wohnte er als Professor nicht mehr in St. Peter selbst, sondern im Peterhof in Freiburg – einem Gebäude nahe der Universität, das dem Kloster gehörte.
Rinderle war ein „freigesinnter Mann“, wie ihm einer seiner Professorenkollegen bescheinigte. Auch der Kirche gegenüber war er nicht unkritisch. In seiner Antrittsrede als Freiburger Professor soll er gar die „abgeschmackte und zweckwidrige Verfassung des Mönchthums“ angeprangert habe. Ob er diese Formulierung tatsächlich verwendete, ist zwar umstritten; aber zweifellos zählte Rinderle zu den Liberalen seines Ordens, die Reformen der kirchlichen Institutionen für notwendig hielten.
Bei aller Freisinnigkeit blieb Rinderle seinem Kloster treu – auch nachdem es von den politischen Stürmen der Zeit hinweggefegt wurde: 1806 wurde St. Peter – ebenso wie St. Blasien und andere traditionsreiche Klöster der Region – zwangsweise säkularisiert, also aufgelöst und enteignet. Der Klosterbesitz fiel an das Großherzogtum Baden. Doch Rinderle trug weiterhin – und bis an sein Lebensende – die einfache Mönchskutte. Als Universitätsprofessor ging er 1819, im Alter von fast 71 Jahren, in den Ruhestand.
Am 7. Oktober 1824 starb Thaddäus Rinderle. Er wurde auf dem Freiburger Alten Friedhof beerdigt, wo eine Kopie des Grabsteins bis heute zu finden ist. Der Original-Stein steht inzwischen in Rinderles Heimatort, in Staufen im Breisgau. Seit 1978 trägt dort auch eine Schule seinen Namen.
In Erinnerung bleibt Rinderle als Mensch der Zeitenwende, der die (scheinbaren) Widersprüche seiner Epoche geradezu idealtypisch verkörperte: In einer Zeit, in der die Autorität des Glaubens und der Kirche schwand, stand er einerseits für den Fortschritt in Wissenschaft und Technik, der den Boden für die industrielle Moderne bereitete. Zugleich aber war und blieb er – wie Kant und andere Aufklärer – ein tiefreligiöser Mensch, dem die Grenzen des Wissens sehr bewusst waren.
Sein Grabstein trägt die passende Inschrift:
„Vieles hat er bestimmt mathematisch
mit Ziffer und Buchstab‘.
Aber die Stunde des Tods bleibt
unbekannter als X.“
Wer mehr über Rinderles Epoche und ihre Umwälzungen in der Schwarzwaldregion erfahren will, wird in meiner Kleinen Geschichte des Schwarzwalds fündig.
Vertiefende Informationen zu Rinderle finden sich unter anderem in Werner Schäffners Werk „Thaddäus Rinderle aus Staufen – Mathematikprofessor an der Albertina in Freiburg“ (2014). Speziell mit Rinderles Weltzeituhr befasst sich eine Publikation des Furtwanger Uhrenmuseums aus dem Jahr 2007 (Johann Wenzel: Die astronomisch-geographische Uhr von Pater Thaddäus Rinderle).
Auch die kommenden Blogbeiträge erscheinen am ersten Freitag jedes Monats.