Er war Symbolfigur, Aktivist, Wegbereiter der Energiewende – Michael Sladek zog 1986 Konsequenzen aus der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl und schaffte mit Gleichgesinnten Erstaunliches: Die „Schönauer Stromrebellen“ nahmen die Energieversorgung ihrer Gemeinde selbst in die Hand und stellten sie auf Erneuerbare Energien um. Vor wenigen Tagen ist Michael Sladek gestorben.
Als es in der damaligen Sowjetunion, im nordukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl, am 26. April 1986 zu einer Explosion und zur Freisetzung radioaktiver Stoffe kam, spürte ganz Europa die Folgen. Auch in der Schwarzwaldregion galt Freilandgemüse plötzlich als Gesundheitsrisiko – auch hier war die Strahlenwolke angekommen. Obwohl die Auswirkungen in Deutschland vergleichsweise milde waren, führte die Katastrophe doch drastisch vor Augen, dass die Kernkraft längst nicht so ungefährlich und kontrollierbar war, wie es ihre Befürworter glauben machen wollten.
Schon vorher hatte es in Deutschland eine Anti-Atomkraft-Bewegung gegeben, die gerade im Südwesten stark war. In den 1970er Jahren verhinderte eine Bürgerbewegung den Bau des Kernkraftwerks Wyhl am Kaiserstuhl. Und im Hochschwarzwald formierte sich ein langanhaltender Protest gegen den Abbau von radioaktivem Uranerz in der Grube Krunkelbach, ganz in der Nähe des Feldbergs – erst 1991 wurde der Abbau dort endgültig eingestellt.
1986, nach Tschernobyl, erhielt die Bewegung neuen Auftrieb. Sämtliche Parteien im Bundestag gingen unter dem Eindruck dieser Zäsur zumindest teilweise auf Distanz zur Nuklearenergie. Ein vollständiger Ausstieg blieb allerdings noch lange heftig umstritten.
In der 2.500-Seelen-Gemeinde Schönau im Südschwarzwald ging die Sache schneller. Und eine der zentralen Figuren dabei, bald schon omnipräsent in Presse und Fernsehen, war Michael Sladek. Sladek, Jahrgang 1946, hatte in Freiburg Medizin studiert und betrieb seit 1977 eine Arztpraxis in Schönau. Sein Markenzeichen war schon damals ein mächtiger Bart, der ihn aussehen ließ wie den Prototypen des urwüchsigen Schwarzwälders – obwohl er ursprünglich, geboren in Murrhardt, aus dem Stuttgarter Raum stammte.
Michael Sladek und seine Frau Ursula trieb angesichts der Katastrophe von Tschernobyl die Sorge um die Zukunft ihrer Kinder um. Gemeinsam mit Gleichgesinnten gründeten sie eine Bürgerinitiative. Das Ziel: die Energiewende – zumindest für Schönau. Nach dem Willen der „Schönauer Stromrebellen“, wie sie bald schon genannt wurden, sollten Erneuerbare Energien künftig die Kernkraft ersetzen.
Doch ein solches Ziel musste vorbereitet sein – zu Beginn war es nicht mehr als eine kühne Vision mit bestenfalls vagen Erfolgschancen. Früh schon war klar: Um die Schönauer Stromversorgung umzustellen, musste man selbst das örtliche Netz übernehmen und es daher dem bisherigen Netzbetreiber, den Kraftübertragungswerken Rheinfelden (KWR), abkaufen. Denn vor der Liberalisierung des Strommarkts am Ende der 1990er Jahre entschied allein der Netzbetreiber über den Strommix. Ein Drittel des Schönauer Stroms kam damals aus der Kernkraft.
Die Übernahme des örtlichen Stromnetzes war kein Spaziergang – die Mehrheit des Schönauer Gemeinderats lehnte sie als unkalkulierbares Risiko ab. Doch die „Stromrebellen“ waren hartnäckig und setzten 1991 einen Bürgerentscheid durch. Eine knappe Mehrheit der Schönauerinnen und Schönauer stimmte dafür, vorerst keinen neuen Konzessionsvertrag mit den KWR mehr abzuschließen und den „Stromrebellen“ die Zeit zu geben, ihre Pläne konkreter werden zu lassen.
Das war zumindest ein Teilerfolg. Doch es ging nun darum, weitere Überzeugungsarbeit zu leisten. 1994 wurden die „Elektrizitätswerke Schönau“ (EWS) gegründet – anfangs waren sie eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, ab 2009 dann (und bis heute) eine Genossenschaft. Zunächst war es die Aufgabe der EWS, die weiterhin verbreiteten Bedenken der Schönauer Bürgerinnen und Bürger zu zerstreuen – etwa die vielfach geschürte Sorge, die Stromversorgung werde zusammenbrechen und der Strompreis ins Unermessliche steigen, wenn das Netz den Besitzer wechsle.
Die endgültige Entscheidung brachte 1996 – seit Tschernobyl waren 10 Jahre vergangen – ein weiterer Bürgerentscheid. Ein intensiver Wahlkampf ging voraus, der zum Teil mit harten Bandagen geführt wurde. Die Entscheidung fiel auch jetzt wieder knapp, aber positiv aus: Die EWS durften das Stromnetz übernehmen.
Jetzt galt es zu liefern. Und man lieferte: Die „Stromrebellen“ bewiesen, dass sie nicht nur rebellieren, sondern auch ein Unternehmen führen konnten und hierbei ihren Vorsätzen treu blieben: Strom wurde künftig aus Wasserkraft und anderen erneuerbaren Quellen gewonnen, auf Kernkraft wurde ebenso verzichtet wie auf fossile Energieträger. Und bald schon lieferten die EWS sogar Strom in andere Gemeinden. Auch die zahlreichen Gesellschafter kamen von Anfang an nicht nur aus Schönau selbst: Es waren Unterstützer aus ganz Deutschland.
Michael Sladek prägte die EWS 20 Jahre lang. Erst 2014 zog er sich aus dem Vorstand der Genossenschaft zurück, die heute über 13.000 Mitglieder hat. Am 24. September 2024 starb er im Alter von knapp 78 Jahren nach schwerer Krankheit. Er bleibt in Erinnerung als Visionär und Macher – als Mann, der andere mitreißen und überzeugen konnte, dass auch das scheinbar Unmögliche möglich war. Noch wenige Monate vor seinem Tod formulierte er sein Credo in einem Beitrag zum „Energiewende-Magazin“:
„Fühle ich mich machtlos wie ein Muckenschiss im Weltall – oder sage ich: Auf mich kommt es an, ich will ins Handeln kommen? Das ist meine Wahl.“
Mehr über die Energiewende in der Region verrät meine Kleine Geschichte des Schwarzwalds. Die ausführliche Geschichte der „Schönauer Stromrebellen“ erzählt das 2008 erschienene Buch „Störfall mit Charme“ von Bernward Janzing.
Der nächste Blog-Beitrag erscheint ausnahmsweise erst am 6. Dezember 2024.