Otto Lilienthal, dem berühmten Luftfahrt-Pionier, gelang 1891 der erste dokumentierte Gleitflug über eine Strecke von etwa 25 Metern. Bei späteren Versuchen erreichte er Flugweiten von bis zu 250 Metern, bis er am 9. August 1896 tödlich verunglückte.
Doch so groß die Begeisterung über Lilienthals erfolgreiche Flugversuche war: Als die Brüder Wilbur und Orville Wright nach der Jahrhundertwende die ersten funktionstüchtigen Motorflugzeuge bauten, schien der unmotorisierte Segelflug bereits wieder antiquiert. Mit Motorflugzeugen ließen sich bald schon große Entfernungen meistern, während die Segelfliegerei nur noch als Spielwiese für Liebhaber erschien.
Im Ersten Weltkrieg (1914–1918) bewiesen die Motorflugzeuge ihren militärischen Nutzen – regelrechte Luftgefechte prägten das Gesicht des Krieges, und bereits damals kamen auch Zivilisten durch Bombenabwürfe ums Leben. Nach der Kriegsniederlage verbot der Friedensvertrag von Versailles (1919) den Deutschen die Produktion von Motorflugzeugen. Eine deutsche Wiederaufrüstung sollte unmöglich gemacht oder zumindest verzögert werden.
Doch Not macht erfinderisch: Um trotz des Verbots an luftfahrttechnischen Innovationen arbeiten zu können, konzentrierten Luftfahrtwissenschaftler, Ingenieure und Piloten ihre Energie auf den Segelflug, der von den Verboten des Versailler Vertrags ausgenommen war. Seit 1920 versammelte sich die Crème de la Crème der deutschen Luftfahrt Jahr für Jahr auf der 950 Meter hohen Wasserkuppe bei Fulda, dem höchsten Berg der Rhön, um einen bald schon legendären, auch international beachteten Segelflug-Wettbewerb auszutragen. Konkurrierende Teams von Wissenschaftlern, Ingenieuren und talentierten Fliegern spornten sich gegenseitig zu immer neuen Innovationen und fliegerischen Höchstleistungen an.
Die „Rhönwettbewerbe“ absorbierten zwar einen Großteil der öffentlichen Aufmerksamkeit, doch geflogen wurden auch andernorts, insbesondere an den Abhängen der Mittelgebirge – zum Beispiel auf der Schwäbischen Alb und im Schwarzwald. So gelang es dem ehemaligen Militärpiloten Fritz Peschkes am 19. August 1920, am Feldberg im Hochschwarzwald mit einem Segelflugzeug namens „Weltensegler“ rund zweieinhalb Minuten in der Luft zu bleiben und dabei eine Flugstrecke von mehr als zwei Kilometern zurückzulegen. Rekordverdächtig war das zwar nicht, doch immerhin ging der Versuch als erster gelungener Segelflug am höchsten Schwarzwaldberg in die Geschichte ein. Der „Weltensegler“, der eine Spannweite von 15 Metern hatte, stammte übrigens aus der Produktion der 1920 neugegründeten „Segelflugzeugwerke Baden-Baden“. Das Unternehmen, das nur fünf Jahre lang bestand, erlebte beim Rhönwettbewerb 1921 einen herben Rückschlag: Der Pilot Wilhelm Leusch stürzte mit dem „Weltensegler“ ab und starb – eines von mehreren Todesopfern, das der Wettbewerb in den 1920er Jahren forderte. Die luftfahrtbegeisterten Piloten nahmen die Lebensgefahr in Kauf, und nicht wenige von ihnen starben jung. Ihrem Heldenstatus, den sie in der Öffentlichkeit genossen, war dies zweifellos eher zuträglich.
Die Leistungen der Segelflieger steigerten sich rasant, immer neue Weltrekorde in Sachen Flughöhe, Flugweite und Flugdauer lösten einander ab. Der eigentliche Schritt vom Gleitflug zum Segelflug gelang mit dem Vampyr – einem innovativen Segelflugzeug, das von Studenten der Technischen Hochschule Hannover nach einem Entwurf des Luftfahrtwissenschaftlers Georg Madelung (1889–1972) gebaut worden war. Als weltweit erstes Segelflugzeug blieb der Vampyr 1922 länger als eine Stunde ununterbrochen in der Luft.
In den späten 1920er Jahren waren die Ziele noch weitaus ehrgeiziger. So gab es einen regelrechten Wettlauf, wem der erste Segelflug über eine Strecke von 100 Kilometern gelingen würde. Einen entsprechenden Versuch wagte am 3. April 1929 der Segelflug-Enthusiast Johannes Nehring. Als Maschinenbau-Student an der Technischen Hochschule Darmstadt und Mitglied der dortigen „Akademischen Fliegergruppe“ hatte er seine Leidenschaft für die Fliegerei entdeckt und bereits erfolgreich an zahlreichen Flugwettbewerben teilgenommen. Nehrings Rekordversuch begann in der Nähe der Burg Frankenstein bei Darmstadt. Von dort aus überflog er den Odenwald bis nach Heidelberg – das Ziel war der Schwarzwald. Der Versuch scheiterte zwar, doch er scheiterte respektabel: Als Nehring nach einer Stunde und vierzig Minuten bei Bruchsal notlanden musste, hatte er eine Strecke von über 70 Kilometern zurückgelegt – auch das war bereits ein Weltrekord. Doch dieser hielt nicht lange: Die Marke von 100 Kilometern übertraf am 15. Mai 1929 der Österreicher Robert Kronfeld, der nicht weniger als 102 Kilometer weit flog.
Auch Nehring und Kronfeld wurden übrigens nicht alt: Nehring starb 1930 erst 27-jährig bei einem Absturz in Darmstadt, Kronfeld, der wegen seiner jüdischen Abstammung in den 1930er Jahren emigrierte, mit 43 Jahren bei einem Testflug in England.
Die Geschichte der Luftfahrt im frühen 20. Jahrhundert ist spannend und reichhaltig – und zugleich Thema eines Ausstellungsprojekts, das ich aktuell in Kooperation mit dem Geschichtsbüro Reder, Roeseling & Prüfer in Köln im Auftrag des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) realisiere. Ziel des Projekts ist eine Wanderausstellung, die ab 2025 zu sehen sein wird.
Der nächste Blog-Beitrag erscheint wieder am ersten Freitag des neuen Monats, also am 3. Januar 2025.