Um das Jahr 1900 verdichteten sich die Hinweise auf die Schattenseiten des technischen Fortschritts: Der urbane Mensch hatte sich eine künstliche Umgebung geschaffen und schien der Natur entfremdet – mit schädlichen Folgen für Körper, Seele und Geist. Hier setzten die „Lebensreformer“ an: Sie strebten zurück zur Natur.
In der aktuellen Wechselausstellung des Museums LA8 in Baden-Baden (Museum für Kunst und Technik des 19. Jahrhunderts) geht es unter dem Titel „Heilende Kunst – Wege zu einem besseren Leben“ um einen radikalen Aufbruch, dessen Folgen bis heute spürbar sind. Die „Lebensreformer“, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert zu einer wachsenden Bewegung formierten, waren überzeugt davon, dass die moderne Zivilisation den Menschen krank und unglücklich machte. Von einer Rückkehr zu den natürlichen Wurzeln und alternativen Lebensmodellen versprachen sie sich eine andere, bessere Zukunft.
Gerade in der Kunst hinterließ die „Lebensreform“ ihre Spuren – zumal Lebensreformer wie Rudolf Steiner (1861-1925), Begründer der Anthroposophie und der Waldorf-Pädagogik, der Kunst eine heilsame Wirkung zusprachen. Als Ikone der „Lebensreform“ gilt bis heute das 1894 entstandene Gemälde „Lichtgebet“ von Hugo Höppener (1868-1948), bekannt unter dem Künstlernamen Fidus. Es veranschaulicht die Programmatik der „Lebensreform“ wie kein anderes.
Das „Lichtgebet“ zeigt einen Menschen, der sich von den Fesseln der Zivilisation befreit hat und eins mit der Natur wird. Das Sonnenlicht, dem er sich entgegenreckt, symbolisiert eine höhere, göttliche Macht. Auch stilistisch bedeutete das Gemälde einen Bruch mit der Konvention – und traf damit einen Nerv der Zeit: Das Motiv, das durch Fidus immer wieder neu variiert wurde, zierte als Kunstdruck millionenfach die Wände bürgerlicher Haushalte des frühen 20. Jahrhunderts.
Ein wichtiger Wegbereiter der „Lebensreform“, den die Baden-Badener Ausstellung ausführlich würdigt, war Karl Wilhelm Diefenbach (1851-1913), zu dessen Schülern Fidus gehörte. Diefenbach war ebenfalls erfolgreicher Kunstmaler, vertrat einen modernen Symbolismus. Doch im Gedächtnis blieb er als Verfechter einer alternativen, naturnahen Lebensweise, die er selbst vorlebte: Im Alter von 30 Jahren entschloss er sich, seine bisherige bürgerliche Existenz hinter sich zu lassen. In Kutte und Sandalen gekleidet, verkündete er seine Lehre. Er predigte Vegetarismus, Naturheilkunde, freie Körperkultur und die Loslösung von gesellschaftlichen Zwängen. Nach unsteten Wanderjahren gründete Diefenbach 1897 die Künstlerkommune „Himmelhof“ bei Wien – sie wurde zu einem Vorläufer der legendären Reformsiedlung Monte Verità bei Ascona im Tessin. Seit 1899 lebte Diefenbach in einem Refugium auf der Insel Capri, wo er im Alter von 62 Jahren starb.
Auch in der Oberrhein-Region machte sich der Geist der „Lebensreform“ bemerkbar: Weniger radikal als Diefenbach und seine Jünger, aber von ähnlichen Ideen inspiriert, fand sich in Grötzingen bei Karlsruhe seit Beginn der 1890er Jahre ein Kreis von gleichgesinnten Malerinnen und Malern in einer Lebens- und Arbeitsgemeinschaft zusammen – zu ihnen zählten Friedrich und Margarethe Kallmorgen, Jenny und Otto Fikentscher sowie die Natur- und Landschaftsmaler Karl Biese, Franz Hein und Gustav Kampmann. Bewusst suchten sie das ländliche Leben am Rand des Nordschwarzwalds, die Verbundenheit mit der Natur – was Friedrich Kallmorgen nicht davon abhielt, eine Kunstprofessur in der Großstadt Karlsruhe anzunehmen.
Die „Lebensreform“ ist widersprüchlich – sie war modern und antimodern zugleich. Wesentliche Bestandteile der Moderne und ihrer technisierten Massenkultur waren den Lebensreformern suspekt – sie strebten zurück in einen natürlichen, letztlich aber utopischen Urzustand.
Und doch hat die „Lebensreform“ das 20. und das 21. Jahrhundert nachhaltig geprägt – nicht nur in Form von Bioläden, FKK-Stränden, Naturheilpraxen und Waldorfschulen. Der Mensch des 21. Jahrhunderts will zwar nicht mehr auf sein Smartphone verzichten, lebt in virtuellen Welten und kommuniziert per Videocall; doch zugleich sucht er Outdoor-Abenteuer in der Wildnis, ernährt sich achtsam und vegan oder engagiert sich im Umweltschutz.
Die visionäre Kraft der „Lebensreform“ verweist auf einen wunden Punkt der Moderne. Denn nicht selten haben die Verfechter technologischer Zukunftsvisionen aus dem Auge verloren, dass auch der moderne Mensch ein Wesen aus Fleisch und Blut ist – und die Entfremdung von der Natur ihren Preis hat.
Die Ausstellung „Heilende Kunst – Wege zu einem besseren Leben“ ist noch bis zum 12. Januar 2025 im „LA8“ zu sehen – ein Besuch ist sehr zu empfehlen.
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