„True Crime“ am Oberrhein – historische Mordfälle aus der Provinz

Früher war die Welt noch in Ordnung? Erst recht auf dem Land?

Ganz so einfach ist es nicht. Dass die vorindustrielle Zeit für viele Menschen von Armut, Hunger und Elend geprägt war, ist kein Geheimnis. Und auch Gewaltverbrechen bis hin zum Mord waren selbst in beschaulichen ländlichen Ortschaften nicht so selten, wie man glauben könnte. So wurde die kleine Gemeinde Ehrenstetten, südwestlich von Freiburg gelegen, im frühen 19. Jahrhundert gleich von zwei Mordfällen erschüttert.

Der US-amerikanische Harvard-Professor Steven Pinker (*1954) publizierte 2011 ein Buch, das heute schon den Rang eines Klassikers hat – der deutsche Titel: „Gewalt – eine neue Geschichte der Menschheit“. Pinker vertritt darin die hoffnungsvolle These, dass die Gewalt im Laufe der Menschheitsgeschichte – über alle grausamen Rückschläge hinweg – tendenziell auf dem Rückzug ist. Waren zum Beispiel in Europa noch vor einigen Jahrhunderten grausame öffentliche Hinrichtungen an der Tagesordnung, werden Verbrechen heute anders, zivilisierter geahndet. Und war körperliche Züchtigung noch im frühen 20. Jahrhundert eine weitgehend akzeptierte Erziehungsmethode, so ist sie heute verpönt.

Nicht jeder will sich dem Pinker’schen Optimismus anschließen. Doch tatsächlich zeigt sich beim Blick in historische Quellen aus früheren Jahrhunderten, dass die Hemmschwelle, körperliche Gewalt anzuwenden, auch bei scheinbar harmlosen Streitigkeiten oftmals sehr niedrig war. Mord und Totschlag stellten zwar keineswegs ein alltägliches Phänomen dar – dass aber auch kleine ländliche Gemeinden nicht davon verschont blieben, zeigen die zwei Mordfälle, die sich innerhalb von weniger als 20 Jahren – 1826 und 1842 – in Ehrenstetten (heute Ortsteil von Ehrenkirchen) ereigneten. Für einen Beitrag, der 2023 in der Ortschronik der Gemeinde Ehrenkirchen erschienen ist, habe ich die einschlägigen Akten gesichtet. Beide Kriminalfälle werfen helle Schlaglichter auf das dörfliche Leben und auch auf die menschlichen Abgründe der damaligen Zeit.

1826 war es der „Mordfall Bollinger“, der die Menschen vor Ort in Atem hielt. Der Landwirt Franz Joseph Bollinger, Bürger von Ehrenstetten, wurde wegen Ermordung der Franziska Riesterer angeklagt. Der Leichnam war in einem Bergschacht innerhalb eines jungen Wäldchen[s] in der Nähe der Felsenmühle bei Ehrenstetten gefunden worden. Der ärztlichen Untersuchung der Leiche zufolge war die Ermordete zweifelsfrei durch gewaltsame Erstickung gestorben, was sich unter anderem aus den blutunterlaufenen und blauen Flecken zu beiden Seiten des Luftröhrenkopfes schließen ließ. Zweifel an der Schuld des Angeklagten bestanden nicht – schon bald nach seiner Festnahme hatte er gestanden und dabei zutreffende Details der Tat genannt, die nur der Täter kennen konnte.

Prozessakte zum Fall Bollinger (Generallandesarchiv Karlsruhe)

Zum Zeitpunkt der Tat am 17. September 1826 war Franz Joseph Bollinger 53 Jahre alt, er war verheiratet und zählte zu den wohlhabendsten Bauern in der Gemeinde. Seit 1821 hatte er mit der ledigen und erheblich jüngeren Franziska Riesterer im verbothenen Umgang gestanden – aus dem Verhältnis waren zwei uneheliche Kinder hervorgegangen. Das stand zwar im Widerspruch zu den gängigen, religiös begründeten Moralvorstellungen der Zeit, war aber dennoch nicht ungewöhnlich – der Pfarrer Wild im Nachbarort Kirchhofen nannte in den 1830er Jahren die Zahl von fast 150 unehelichen Kindern in seiner Pfarrei.

Bollinger überhäufte seine Geliebte mit Geschenken, erhob zugleich aber Besitzansprüche. Franziska Riesterer hatte gleichzeitig ein Liebesverhältnis mit Johann Kammerer aus Ehrenstetten begonnen, worauf Bollinger mit heftiger Eifersucht reagierte – es kam vorübergehend zur Trennung von seiner Geliebten. Als Riesterer die Absicht bekundete, Kammerer zu heiraten, begann Bollinger Mordabsichten zu hegen. Diese verbarg er allerdings, nahm sogar das Verhältnis zu Franziska Riesterer wieder auf. Dennoch blieb diese bei ihren Heiratsplänen. Daraufhin fasste Bollinger, wie er selbst im Verhör zu Protokoll gab, den festen Entschluss, sie eher zu tödten, als daß sie den Kammerer heurathe.

Unter einem Vorwand überredete er sein Opfer, mit ihm gemeinsam zu Fuß nach Freiburg gehen. Gezielt schlug Bollinger den umständlicheren, aber einsamen Fußweg über Bollschweil durch das Hexental ein. Unterwegs gab er Riesterer Alkohol, um sie gesprächig zu machen. Auf seine Fragen hin beharrte sie darauf, Kammerer heiraten und ihr Verhältnis zu Bollinger endgültig lösen zu wollen. Daraufhin erwürgte Bollinger die wehrlose Frau mit bloßen Händen. Den Leichnam versteckte er zunächst im Wald und bedeckte ihn mit Zweigen. Noch am Abend desselben Tages kehrte er zurück und warf die Leiche in den genannten Erdschacht, wo sie kurze später Zeit später gefunden wurde.

Es dauerte nicht lange, bis der Verdacht auf Bollinger fiel – wusste doch die Schwester der Ermordeten, dass diese mit Bollinger unterwegs gewesen war. In den Vernehmungen zeigte der Täter keine ernsthafte Reue. So gab er zu Protokoll: Ich habe geglaubt, es seye keine so große Sünde, daß ich eine Person, die ich theuer gekauft und bezahlt hatte, tödte.

Dass die Tötung vorsätzlich und mutwillig erfolgt war, galt damit als erwiesen. Im Dezember 1827 wurde Bollinger zum Tode verurteilt. Am 3. Januar 1828 wurde das Urteil in Staufen mit dem Schwert vollstreckt.

Der nächste Mordfall in Ehrenstetten beschäftigte die Behörden noch deutlich länger: Am späten Abend des 18. November 1842 wurde der 66-jährige Martin Leimgruber senior aus Ehrenstetten in seinem Wohnhaus todt in seinem Blute liegend gefunden. Aufsehen erregte die besondere Brutalität der Tat: Die Leiche wies 27 Schnittwunden im rechte[n] u. linke[n] Hinterhaupt, sodann eine Schnittwunde an der linken Seite des Halses von 6 Zoll Länge u. 13 Zoll Breite auf.

Tatortskizze zum Mordfall Leimgruber (Staatsarchiv Freiburg)

Hauptverdächtiger war von Anfang an der 33-jährige, ledig gebliebene Sohn des Ermordeten, Martin Leimgruber junior, der mit seinem Vater unter einem Dach zusammengelebt hatte – die Ehefrau des Ermordeten war bereits kurze Zeit vorher verstorben. Der junge Martin Leimgruber war es auch gewesen, der den Tod seines Vaters gemeldet hatte. Nach seiner Verhaftung leugnete er die Tat aber vehement und behauptete, die Leiche bei seiner Heimkehr vorgefunden zu haben. Selbst nach monatelangen Verhören blieb er bei dieser Darstellung. Doch nachdem andere potenzielle Täter als entlastet galten – insbesondere ein Landstreicher aus Denzlingen, der am Tag des Mordes durch die Ortschaft gezogen war –, blieb Martin Leimgruber als einziger Verdächtiger.

Als Tatwaffen waren ein Tischmesser und ein noch mit Blut überzogene[s] Stück Buchenholz identifiziert worden. Der endgültige Beweis für Martin Leimgrubers Schuld fehlte. Doch betonte das Bezirksamt, dass Leimgruber nicht ungestraft davonkommen dürfe. Nicht nur sei der Beschuldigte von jeher in seiner Gemeinde gefürchtet u. verabscheut, sei als gewalttätig bekannt und werde von seinen Mitbürgern einhellig für schuldig gehalten, sondern seine straffreie Entlassung werde ein fatales Zeichen an die Öffentlichkeit senden: Sie werde auch andere Personen zu Gewalttaten anstiften und dem Eindruck Vorschub leisten, daß man bei uns nur standhaft läugnen dürfe, um jedes, auch das größte Verbrechen, ungestraft zu begehen!

Noch bevor die Gerichtsverhandlung begonnen hatte, fand sich ein weiteres Indiz: Am 27. Juli 1843 kam in dem Schweinstall des Martin Leimgruberschen Hauses unter dem aus Holzbalken zusammengefügten Boden ein blutverschmiertes Hemd zum Vorschein. Es war inzwischen zwar von Mäusen zerfressen, wegen der eingestickten Initialen aber als Hemd des Tatverdächtigen erkennbar, der es – so die naheliegende Vermutung – nach der Tat versteckt haben musste.

Das Freiburger Hofgericht hielt die Schuld zwar dennoch nicht für zweifelsfrei erwiesen, verurteilte Leimgruber aber wegen des auf ihm lastenden dringenden Verdachtes zu einer zwanzigjährigen Sicherheitsverwahrung im Zuchthaus. Nach der Berufung des Staatsanwalts hatte sich 1844 das Badische Oberhofgericht in Mannheim mit dem Fall zu befassen. Dort wurde Martin Leimgruber für schuldig befunden und deshalb zur Todesstrafe mittels Enthauptung durch das Schwerdt verurteilt. Denn nicht nur seien die Indizien eindeutig, auch hätten die Untersuchungen erwiesen, daß der Sohn des Vaters überdrüssig war – bei den Streitereien zwischen Vater und Sohn, die Zeugen zufolge vor der Tat erheblich zugenommen hatten, war es unter anderem um Geld gegangen. Als belastend wurde auch angeführt, dass der Beschuldigte so theilnahmslos hinsichtlich des Schicksals seines Vaters sich benahm, wie es nur beim Täter der Fall sein könne. Es blieb beim Schuldspruch. Allerdings wandelte der badische Großherzog die Todesstrafe in lebenslängliche schwere Zuchthausstrafe um, die Leimgruber ab Januar 1845 in der Strafanstalt Bruchsal verbüßte. Aufgrund eines psychologischen Gutachtens wurde er 1849 in die Heil- und Pflegeanstalt Illenau in Achern überstellt, die wenige Jahre zuvor als Landesirrenanstalt mit strenger Sicherheitsverwahrung gegründet worden war.

Die Darstellung der beiden geschilderten Kriminalfälle ist entnommen aus der Ortschronik „Ehrenkirchen – Fünf Dörfer im Wandel der Zeit“ (2023) bzw. aus meinem dortigen Beitrag über das 19. Jahrhundert („Von Napoleon bis zum Ersten Weltkrieg“). Die Ortschronik ist bei der Gemeindeverwaltung Ehrenkirchen erhältlich.

Die Blog-Beiträge erscheinen weiterhin am ersten Freitag jedes Monats.

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