Schon am Vorabend des Ersten Weltkriegs zählte der ukrainische Schachmeister Efim Bogoljubow, damals 25 Jahre alt, zu den stärksten Spielern der Welt. Bei Kriegsbeginn 1914 nahm sein Leben eine abrupte Wendung: Das Schicksal verschlug ihn nach Triberg im Schwarzwald.
1889 geboren, war Efim Bogoljubow als Sohn eines griechisch-orthodoxen Priesters in der Nähe von Kiew aufgewachsen – im damaligen russischen Zarenreich. Dem ursprünglichen Berufsziel, wie sein Vater Geistlicher zu werden, wurde er bald schon untreu. Er brach sein Theologie-Studium in Kiew ab und schrieb sich stattdessen am Polytechnikum ein. Aber auch ein Ingenieur wurde nicht aus ihm. Zu erfolgreich war er im Schachspiel, das er recht spät, im Alter von 15 Jahren, erlernt hatte. Als 20-Jähriger feierte er seinen ersten bedeutenden Turniersieg in Kiew. Es war der Beginn einer steilen Karriere: Schon wenige Jahre später konnte der aufstrebende Schachmeister seinen Lebensunterhalt als Berufsspieler bestreiten – er lebte von Siegerprämien bei großen Turnieren.
Ausgerechnet das erste Turnier, das Bogoljubow außerhalb des Zarenreichs spielte, nahm einen gänzlich unerwarteten Verlauf und wurde zur wohl tiefsten Zäsur in seinem Leben. Es war das internationale Meisterturnier, das im Sommer 1914 in Mannheim ausgetragen, aber nie zu Ende gespielt wurde: Der Erste Weltkrieg kam dazwischen. Mit der deutschen Kriegserklärung an Russland war Bogoljubow plötzlich „feindlicher Ausländer“, ebenso die anderen russischen Turnierteilnehmer – unter ihnen der spätere Weltmeister Alexander Aljechin. Nach zeitweiligem Gefängnisaufenthalt wurden die Meister im Schwarzwaldstädtchen Triberg interniert, wo sie vergleichsweise komfortabel in Hotels und Pensionen untergebracht waren – ein Privileg für Zivilgefangene, die es sich leisten konnten.
Während Triberg für die anderen nur eine Zwischenstation war – Aljechin kehrte durch einen Gefangenenaustausch nach Russland zurück -, kam es bei Bogoljubow ganz anders: Er blieb freiwillig, auch nach Kriegsende. Denn Triberg gefiel ihm – und er lernte dort Frieda Kaltenbach, die Frau seines Lebens kennen. Nach einem zeitweiligen Aufenthalt in Berlin, wo er sein finanzielles Polster durch Turniere und Zweikämpfe gegen erstklassige Gegner aufbesserte, kehrte er 1920 in den Schwarzwald zurück und heiratete bald darauf.
Als Wohnort eines Weltklassespielers rückte Triberg ins Rampenlicht der Schachwelt: In den 1920er Jahren fanden dort zwei hochkarätige Turniere statt. Als charismatische und extrovertierte Persönlichkeit wurde Bogoljubow in seiner neuen Heimat zu einer populären Figur, gab auch häufige Simultanveranstaltungen, bei denen er gegen zahlreiche Amateure gleichzeitig spielte.
Dass er nicht mehr in die Heimat zurückkehrte, dürfte auch eine Folge der dortigen Umwälzung gewesen sein: 1917 hatte die Oktoberrevolution das Ende des Zaren besiegelt, 1922 folgte die Gründung der Sowjetunion. Zwar trat Bogoljubow noch Mitte der 1920er Jahre für das sowjetische Team an und wurde 1924 und 1925 Meister der UdSSR, doch kam es zu einer fortschreitenden Entfremdung. Als Exilant wurde Bogoljubow in der Sowjetunion als Materialist angefeindet, der nur dem Geld hinterherlaufe. 1929 nahm er die deutsche Staatsbürgerschaft an – und ging nun als mehrfacher deutscher Schachmeister in die Annalen ein.
Mit Büchern, die er in seinem Triberger Selbstverlag publizierte, trat Bogoljubow auch als Schachbuch-Autor in Erscheinung. Bis heute ist nach ihm eine Schacheröffnung benannt. Und es fehlte nicht viel zum Weltmeistertitel: 1929 trat er in einem Match gegen den amtierenden Schachkönig Aljechin an. Doch ebenso wie beim zweiten Anlauf, dem Weltmeisterschafts-Match 1934, scheiterte Bogoljubow an seinem stärksten Gegner und alten Bekannten.
Seine größten schachlichen Erfolge hatte Bogoljubow bereits hinter sich, als 1933 die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland übernahmen. Von den deutschen Meisterschaften wurde er seit 1935 als „Nicht-Arier“ ausgeschlossen. Doch er nahm weiterhin an Turnieren teil, trainierte sogar zeitweise die deutsche Schach-Nationalmannschaft. Triberg war und blieb seine Wahlheimat – 1937 gründete er dort eine private Schachakademie. Aus seiner Ehe waren inzwischen zwei Töchter hervorgegangen.
Das umstrittenste Kapitel in der Biografie des Schachmeisters sind die Jahre des Zweiten Weltkriegs. Ebenso wie Weltmeister Aljechin, der Russland 1921 verlassen hatte, ließ er sich von Hans Frank, NS-Generalgouverneur im besetzten Polen, vor den Karren spannen: Frank war selbst begeisterter Schachspieler und schmückte sich mit Schachgrößen wie Aljechin und Bogoljubow. Letzterer siedelte 1940 ganz nach Polen über, wofür er auch die Trennung von seiner Familie in Kauf nahm. 1941 wurde er Mitglied der NSDAP.
In Hans Franks Diensten war Bogoljubow als Dolmetscher eingesetzt, da er sowohl die ukrainische als auch die russische Sprache beherrschte. Seine Hauptaufgabe bestand aber in Auftritten bei Turnieren und Wettkämpfen, die der NS-Propaganda nützten. Auch tingelte er im Auftrag des Generalgouverneurs durch Lazarette hinter der Ostfront, wo er Vorträge hielt und zahllose Simultanpartien spielte. Erst im Sommer 1944, als die deutsche Wehrmacht längst auf dem Rückzug war, kehrte Bogoljubow nach Triberg zurück. Seine Rolle in der NS-Zeit bleibt umstritten: Zweifellos zeugt sein Verhalten von Opportunismus gegenüber dem NS-Regime und einer mangelnden Sensibilität für dessen Verbrechen. Sein Förderer Hans Frank (in der Bildmitte als Angeklagter in Nürnberg) wurde 1946 als einer der Hauptkriegsverbrecher hingerichtet.
Entsprechend galt Bogoljubow nach Kriegsende als politisch belastet. Als der Weltschachbund 1950 erstmals den Titel „Großmeister“ an führende Spieler verlieh, wurde der Schachmeister aus dem Schwarzwald übergangen. Doch ein Jahr später erhielt er den Titel doch und durfte sich damit als weitgehend rehabilitiert betrachten. Noch als 60-Jähriger hatte er 1949 ein viertes Mal die deutsche Meisterschaft gewonnen, spielte buchstäblich bis zuletzt: Unmittelbar nach der Rückkehr von einem Turnier in Belgrad starb er 1952 in Triberg an einem Herzinfarkt.
Bis 2016 war das Grab des Schachmeisters auf dem Triberger Friedhof zu sehen. Und sein langjähriges Domizil blieb im Ort als „Haus Bogoljubow“ in Erinnerung – es ist noch heute Station des historischen Stadtrundgangs.
Den neuesten Forschungsstand zu Bogoljubow repräsentiert ein Themenheft des kulturellen Schachmagazins „Karl“ (Ausgabe 1/2021). Auch in meiner „Kleinen Geschichte des Schwarzwalds“, die kürzlich im Lauinger-Verlag erschienen ist, habe ich Bogoljubows ungewöhnliche Biografie aufgegriffen.
Zum Schluss noch eine Ankündigung: Die ab jetzt folgenden Blog-Beiträge erscheinen regelmäßig am ersten Freitag jedes Monats.