Ein Märchen, das eigentlich keines ist?
Der gängigen Definition nach ist die Handlung eines Märchens nicht zeitlich einzuordnen – und im Unterschied zu Sage oder Legende fehlt jeglicher Bezug zu realen Orten.
Doch im Hauff-Märchen „Das kalte Herz“ steht die Ortsangabe gleich am Anfang: „Wer durch Schwaben reist, der sollte nie vergessen, auch ein wenig in den Schwarzwald hineinzuschauen.“
Womit der Schauplatz der Handlung vorweggenommen ist.
Es ist auch keine zeitlose Märchenwelt, die Wilhelm Hauff schildert. Sondern es ist seine eigene Epoche, die Lebenswelt des frühen 19. Jahrhunderts. Ihren märchenhaften Charakter bekommt die Erzählung durch zwei übernatürliche Figuren: den unheimlichen Riesen „Holländermichel“ und das „Glasmännlein“, einen guten Waldgeist.
Dass „Das kalte Herz“ nicht als Sage, sondern als Märchen berühmt wurde, liegt vor allem am Autor selbst: Er nahm es in seinen „Märchenalmanach“ auf, der 1827 erschien – dem Jahr, in dem Hauff mit nicht einmal 25 Jahren an einer Infektionskrankheit starb.
Ob Märchen oder nicht – „Das kalte Herz“ hat sich seitdem als zeitlos erfolgreich erwiesen. Es erscheint bis heute in immer neuen Auflagen und wurde mehrmals verfilmt – zuletzt 2016 mit Kinostar Moritz Bleibtreu als Holländermichel und Frederick Lau in der Rolle des Protagonisten, des aus kärglichen Verhältnissen stammenden Köhlers Peter Munk.
Dass das Märchen im Schwarzwald spielt, mag nebensächlich erscheinen. Die Botschaft des Märchens ist tatsächlich überall gültig – gebündelt im letzten Satz: „Es ist doch besser, zufrieden zu sein mit wenigem, als Gold und Güter haben und ein kaltes Herz.“
Und doch wäre es schwerlich möglich, die Handlung an einen anderen Ort zu verpflanzen. „Das kalte Herz“ ist ein wahres Schwarzwald-Märchen, das vor Lokalkolorit nur so strotzt – bis hin zur Beschreibung der einheimischen Tracht.
Als Köhler steht der Protagonist für ein Gewerbe, das im Schwarzwald viele Jahrhunderte lang zu Hause war: Die kunstvoll aufgeschichteten Kohlenmeiler waren im Gebirge allgegenwärtig – bis die Eisenbahn, die günstige Steinkohle aus den großen Bergbaugebieten anlieferte, der Köhlerei ein rasches Ende machte.
Mit Hilfe des Glasmännleins steigt Peter Munk zum Besitzer einer großen Glashütte auf. Auch hier zeigt sich der Bezug zur Region: Da der Holzbedarf der Glasmacher gewaltig war, prägte die Glasproduktion den Schwarzwald schon seit dem Mittelalter. Verbreitet ist übrigens die Theorie, dass es die Glashütte Schönmünzach war – unweit Baiersbronns im württembergischen Nordschwarzwald gelegen –, die Hauff als Vorbild diente. Ein Verwandter des Dichters amtierte als Pfarrer in Schwarzenberg, in direkter Nachbarschaft der Glashütte. Dass Hauff dort zu Besuch war, gilt zumindest als plausibel.
Der böse Holländermichel steht für ein weiteres Schwarzwaldgewerbe: die Flößerei, die seit dem 18. Jahrhundert einen beispiellosen Boom erlebte. Denn da die Niederlande in dieser Zeit zu einer führenden Seemacht aufstiegen, brauchten sie für den Schiffsbau Holz in rauen Mengen – und nichts war hier besser geeignet als mächtige Schwarzwaldtannen. Doch der sagenhafte Reichtum der großen Holzhändler stand in krassem Gegensatz zur verbreiteten Armut – wie sehr oft bei Hauff, findet sich auch hier eine gute Portion Gesellschaftskritik, verpackt in ein scheinbar harmloses Märchen.
Märchentypisch ist jedenfalls das Happy End, das Hauff für die Leser bereithielt. Nachdem Peter Munk die Glashütte durch Leichtsinn verloren, dem Holländermichel sein Herz verkauft und sich dadurch zum reichen, aber hartherzigen Scheusal gewandelt hat, wendet das Glasmännlein alles zum Guten: Mit seiner Hilfe erhält Peter sein eigenes, pochendes Herz zurück – und wird nun aus eigener Kraft zum gemachten Mann.
„Das kalte Herz“ steht heute im Mittelpunkt zweier Museen im Nordschwarzwald: „Hauffs Märchenmuseum“ in Baiersbronn präsentiert zudem sehr facettenreich die Biografie des Autors – das kurze, aber ereignisreiche Leben Wilhelm Hauffs. Und im Schloss Neuenbürg oberhalb der gleichnamigen Stadt wird „Das kalte Herz“ gar als „begehbares Märchen“ erzählt – wer neugierig geworden ist, sollte es sich anschauen.
Wer außerdem mehr darüber erfahren möchte, warum Hauffs Märchen typisch für die romantische Neuerfindung der Region war, wird in meiner „Kleinen Geschichte des Schwarzwalds“ fündig.
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