Georg Herwegh war zeit seines Lebens Grenzgänger zwischen Deutschland, Frankreich und der Schweiz: Vor 200 Jahren in Stuttgart geboren, floh er als junger Mann nach Zürich, gelangte zu frühem Dichter-Ruhm und war bald auch in den feinen Pariser Salons zu Hause. Von Straßburg aus führte er 1848 eine Freiwilligen-Truppe über den Rhein, um die Revolution in Deutschland zu befeuern. Nach erneutem Exil in der Schweiz verbrachte er seinen Lebensabend im badischen Lichtental.
Als talentiert hatte Georg Herwegh, geboren am 31. Mai 1817, schon als Schüler gegolten. Nicht umsonst schaffte es der einfache Bürgersohn, an der Seminarschule Maulbronn und als Stipendiat an der Universität Tübingen aufgenommen zu werden – Herwegh sollte protestantischer Pastor werden. Allerdings reizte ihn die geistliche Laufbahn wenig. Ein nächtlicher Exzess kostete schließlich das Stipendium. Ein enormer Schuldenberg zwang Herwegh bald darauf, das Studium gänzlich an den Nagel zu hängen. Er fand nun ein bescheidenes Auskommen als freier Autor und Redaktionsgehilfe in Stuttgart, wurde von seinem Förderer August Lewald gar als „zweiter Schiller“ gehandelt.
Insbesondere als politischer Dichter schien Georg Herwegh seine wahre Berufung gefunden zu haben. Schon als Fünfzehnjähriger hatte er unter der Schulbank heimlich die Reden des Hambacher Festes gelesen, träumte von Freiheit und Demokratie. Literarische Vorbilder waren die Vertreter des „Jungen Deutschland“ – der Dichtergruppe um Heinrich Heine, die 1835 durch fürstlichen Erlass verboten worden war.
Seiner militärischen Einberufung im Königreich Württemberg entzog sich Herwegh durch die Flucht. Als Deserteur verfolgt, fand er 1839 in der Schweiz ein neues Zuhause. Er erlebte hier die produktivste Phase seines Lebens. 1841 feierte er seinen Durchbruch mit den „Gedichten eines Lebendigen“. Unter dem Titel „Aufruf“ schrieb der einstige Theologie-Student: „Reißt die Kreuze aus der Erden! Alle sollen Schwerter werden“ – der radikale Appell zum Umsturz der alten politischen Ordnung.
Aus Begeisterung für den als „Freiheitssänger“ Verehrten gründeten sich überall in Deutschland Herwegh-Klubs. Der junge Dichter avancierte zum Popstar der Vormärz-Lyrik. Eine seiner frühen Verehrerinnen war Emma Siegmund, Tochter eines preußischen Hoflieferanten, die nicht nur Herweghs Gedichte, sondern auch den Autor ins Herz schloss. Als die beiden sich 1842 begegneten, war die Verlobung bald besiegelt. Nach der Hochzeit lebte das Paar meist in Zürich und Paris. Emma war eine gute Partie und brachte Herwegh das vorläufige Ende der chronischen Geldnöte.
Dichterkollege Karl Gutzkow beschrieb den Herwegh des Jahres 1842 als „jugendlich anziehend“, „mit Augen wie reife schwarze Kirschen“. Seine äußerlichen Vorzüge wusste der Schriftsteller zu nutzen. Mit der Pariser Salondame Marie d‘Agoult verband ihn eine nur halbherzig verborgene Liaison. Für schwerere Turbulenzen im Herweghschen Eheleben sorgte einige Jahre später eine andere Affäre. In Paris lernten die Herweghs den russischen Exilanten Alexander Herzen und dessen Frau Natalie kennen. Man freundete sich an, doch entdeckten Georg Herwegh und Natalie Herzen bald auch zärtliche Gefühle füreinander. Herwegh und Alexander Herzen wurden zu erbitterten Feinden. Natalie Herzen, die ihren Mann nicht verlassen wollte, starb in jugendlichem Alter krank vor Liebeskummer. Emma und Georg Herwegh trennten sich im gleichen Jahr. Emma ging zeitweise eine Liaison mit einem italienischen Revolutionär ein, kehrte aber nach zwei Jahren zu ihrem Mann zurück.
Über Jahrzehnte waren die Herweghs fester Bestandteil intellektueller Kreise in Frankreich und der Schweiz. Man verkehrte mit Berühmtheiten wie Karl Marx, Gottfried Keller, Franz Liszt und Ferdinand Lassalle. Zu manchen entstanden intensive Freundschaften. Der Philosoph Ludwig Feuerbach geriet nach der ersten Begegnung mit dem Dichter geradezu ins Schwärmen: „In ihm fühle ich eine verwandte Seele; er ist grundfrei, ernst, tief, wahrhaft“, schrieb er 1845 über Herwegh. Auch von dessen literarischen Qualitäten waren viele Zeitgenossen überzeugt. Marie d’Agoult rühmte ihn überschwänglich als „Poet mit dem Flammenwort“.
Andere Urteile fielen weniger freundlich aus. Franz Liszt schrieb nach einem persönlichen Treffen: „Herwegh macht auf mich den Eindruck einer recht unbeständigen Erscheinung.“ Für Heinrich Heine, den Schriftstellerkollegen im Pariser Exil, war Herwegh lediglich ein Möchtegern-Volksdichter mit Rehleder-Handschuhen und Atlas-Krawatte. In der Tat trug Herwegh nur noch feinste Stoffe und roch nach Kölnisch Wasser. Seinen schwäbischen Dialekt hatte er abgelegt wie einen nicht mehr passenden Anzug. Und doch sah er sich als Anwalt des kleinen Mannes.
Als 1848 in Paris die Revolution ausbrach, war Herwegh dabei. Es gelang ihm, in Paris eine Truppe von einigen hundert Exildeutschen und französischen Gesinnungsgenossen zusammenzutrommeln, um der Revolution auch in Deutschland zum Sieg zu verhelfen. Doch das Unternehmen wurde ein einziger Fehlschlag. Mancher Soldat der schlecht ausgebildeten „Deutschen Legion“ musste mit einer Sense Vorlieb nehmen, da es an Gewehren mangelte. Als man im April 1848 in Straßburg eintraf, um nach Deutschland überzusetzen, hielt sich die Begeisterung auf der anderen Rheinseite in Grenzen: Die Revolutionäre unter Friedrich Hecker fürchteten, als Handlanger Frankreichs dazustehen, wenn sie die Truppe aus Paris zu Hilfe riefen. Als Hecker schließlich doch um Unterstützung bat, war es zu spät: auf deutschem Boden eingetroffen, erfuhren Herwegh und seine Mistreiter von der vernichtenden Niederlage der badischen Revolutionäre. Während andere in Gefangenschaft geriet oder ums Leben kam, gelang dem Ehepaar Herwegh die Flucht über die Schweizer Grenze. Hartnäckig kursierte das Gerücht, Herwegh habe sich zuletzt unter dem Rock seiner Frau versteckt, um beim Grenzübertritt nicht erkannt zu werden. Herweghs Nimbus als heldenhafter Vorkämpfer der Revolution war dahin.
Danach konnte sich Herwegh selbst zum Dichten zeitweise kaum noch aufraffen. Stattdessen befasste er sich mit Botanik und Vulkanismus, glaubte sich zum Forscher berufen. Zugleich träumte er davon, ein Opus Magnum zu schaffen, vergleichbar mit Homers Odyssee oder Dantes Göttlicher Komödie – und überschätzte sich dabei maßlos. Selbst der Anfang wollte nicht gelingen. Der junge Richard Wagner, in den 1850er Jahren Herweghs ständiger Begleiter in gemeinsamen Züricher Zeiten, bestärkte ihn zwar in seinem Vorhaben. Doch während Wagner vor Schaffenskraft sprudelte, brachte Herwegh kaum etwas zu Papier.
Als bissiger und geistreicher Kommentator des Zeitgeschehens blieb Herwegh aber durchaus aktiv. 1863 gelang ihm zudem ein neuer, allerdings auch der letzte große Coup. Beauftragt von Ferdinand Lassalle, dem Vorkämpfer der deutschen Arbeiterbewegung, dichtete er die Bundeshymne für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein. Eilig vertont, sorgte die Hymne im Arbeiterverein für „lautesten Enthusiasmus“ und stehenden Applaus für den Dichter, wie Lassalle brieflich meldete. Wenn etwas bleibt von Georg Herwegh, dann ist es wohl dieser eine, an den „Mann der Arbeit“ gerichtete Satz aus der Bundeshymne, der bis heute auf Transparenten streikender Gewerkschafter zu finden ist: „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will!“
1866 flohen die Herweghs, deren Vermögen längst aufgebraucht war, vor ihren Gläubigern nach Deutschland. Sie ließen sich in Lichtental nieder, dem heutigen Stadtteil von Baden-Baden. Herwegh, der einst steckbrieflich Gesuchte, war in der Heimat längst amnestiert.
Ein zweiter Schiller war aus Herwegh nicht geworden. Doch einer der bekannteren Vormärz-Dichter ist er geblieben. Als Revolutionär war er gescheitert – und blieb seinen Idealen doch treu. In die Euphorie bei der Reichsgründung 1871 stimmte Herwegh nicht ein. Für ihn war es der Sieg des verhassten preußischen Staates, der den Traum von Demokratie in weite Ferne rücken ließ. Begraben sein wollte Herwegh nur „in freier republikanischer Erde“ – so verfügte er es zu Lebzeiten. Als Herwegh 1875 erst 57-jährig an einer Lungenentzündung starb, wurde er in Liestal im Kanton Baselland beigesetzt. Seit 1946 befindet sich dort das Herwegh-Archiv, das den Nachlass des Dichters verwaltet.