Vor 225 Jahren entstand in Straßburg ein Lied, das ursprünglich nicht für die Ewigkeit, sondern ganz für den Augenblick gedacht war: als „Kriegsgesang für die Armee am Rhein“ sollte es 1792 die Moral des französischen Revolutionsheeres heben. Doch obwohl sich der Erfolg des „Kriegsgesangs“ zunächst in Grenzen hielt, wurde er – unter dem Namen Marseillaise – bald schon unsterblich.
Dass dieses Lied, heute die vielleicht bekannteste Nationalhymne der Welt, am Oberrhein geschaffen wurde, geriet zuweilen in Vergessenheit – denn benannt ist es nach der Stadt am Mittelmeer, in der es zum ersten Mal die Massen begeisterte. Marseiller Soldaten waren es auch, die das Lied nach Paris brachten. Im Sommer 1792 avancierte die Marseillaise zum Revolutionslied schlechthin und 1795 zur französischen Nationalhymne.
Der Schöpfer von Text und Melodie war Claude Joseph Rouget de Lisle, ein französischer Offizier und leidenschaftlicher, bis dahin aber erfolgloser Komponist. Der damals 32-Jährige war im Frühjahr 1792 in Straßburg stationiert. Am Vorabend des Krieges gegen Österreich und Preußen war die Stimmung dort am Siedepunkt. Keiner hat diese Situation eindringlicher geschildert als Stefan Zweig. In seinem Werk „Sternstunden der Menschheit“ schrieb er:
„Lastend und seelenverstörend hat in diesen Wochen und Wochen die elektrische Spannung über Paris gelegen; aber noch drückender, noch drohender schwült die Erregung in den Grenzstädten. […] und vor allem im Elsaß weiß man, daß auf seiner Scholle, wie immer zwischen Frankreich und Deutschland, die erste Entscheidung fallen wird. An den Ufern des Rheins ist der Feind, der Gegner, nicht wie in Paris ein verschwommener, ein pathetisch-rhetorischer Begriff, sondern sichtbare, sinnliche Gegenwart; denn an dem befestigten Brückenkopf, von dem Turm der Kathedrale, kann man die heranrückenden Regimenter der Preußen mit freiem Auge wahrnehmen. […] Und alle wissen: nur ein einziges Wort, nur ein einziges Dekret ist vonnöten, und aus dem schweigenden Mund der preußischen Kanonen fährt Donner und Blitz, und der tausendjährige Kampf zwischen Deutschland und Frankreich hat abermals begonnen – diesmal im Namen der neuen Freiheit auf der einen Seite und im Namen der alten Ordnung auf der andern.“
Als aus Paris die Nachricht von der französischen Kriegserklärung eintraf, entlud sich in Straßburg die aufgestaute Anspannung. Die Bürger strömten auf die öffentlichen Plätze; Friedrich Freiherr von Dietrich, seit 1789 Straßburger Bürgermeister, verlas die Kriegserklärung auf Französisch und auf Deutsch; unter dem Jubel der Menschenmassen hielten die kampfbereiten Truppen Paraden in der Stadt ab; überall wurden feurige Reden geschwungen. Dietrich, der Bürgermeister, wusste von Rouget de Lisles musikalischen Ambitionen und forderte den jungen Offizier kurzentschlossen auf, ein patriotisches Kriegslied zu dichten. Rouget zögerte nicht lange: In der Nacht vom 25. auf den 26. April schuf er in einem wahren Kraftakt sein Meisterwerk.
Mit dichterischer Freiheit schilderte Stefan Zweig den Entstehungsprozess:
„Auch Rouget, der jetzt in sein bescheidenes Zimmerchen in der Grande Rue 126 die runde Treppe hinaufgeklettert ist, fühlt sich merkwürdig erregt. […] Wie beginnen? Noch schwirren ihm alle anfeuernden Rufe der Proklamationen, der Reden, der Toaste chaotisch durch den Sinn. ,Aux armes, citoyens! … Marchons, enfants de la liberté! … Écrasons la tyrannie! … L’étendard de la guerre est déployé! …‘ […] Und mit einemmal strömt alles zusammen: alle die Gefühle, die sich in dieser Stunde entladen, alle die Worte, die er auf der Straße, die er bei dem Bankett gehört, der Haß gegen die Tyrannen, die Angst um die Heimaterde, das Vertrauen zum Siege, die Liebe zur Freiheit. […] Eine Exaltation, eine Begeisterung, die nicht die seine ist, sondern magische Gewalt, zusammengeballt in eine einzige explosive Sekunde, reißt den armen Dilettanten hunderttausendfach über sein eigenes Maß hinaus und schleudert ihn wie eine Rakete – eine Sekunde lang Licht und strahlende Flamme – bis zu den Sternen. […] Dann noch eine fünfte Strophe, die letzte, und aus einer Erregung und in einem Guß gestaltet, vollkommen das Wort der Melodie verbindend, ist noch vor dem Morgengrauen das unsterbliche Lied vollendet. […] Kaum ein zweites Mal in der Geschichte aller Völker ist ein Lied so rasch und so vollkommen gleichzeitig Wort und Musik geworden.“
So ähnlich mag es gewesen sein. Sicher ist, dass Rouget in dieser einen Nacht über sich hinaus wuchs. Der Komponist widmete sein Lied dem Oberbefehlshaber der französischen Rheinarmee – ironischerweise ein Deutscher: Graf Nikolaus Luckner, der seit Jahrzehnten im französischen Heer diente und später übrigens – ebenso wie Bürgermeister Dietrich – auf der Guillotine endete. Als Kriegsgesang der Rheinarmee kam Rougets neues Lied aber nicht zum Einsatz. Die Premiere in Dietrichs Straßburger Privatsalon wurde zwar freundlich beklatscht, aber der Funke sprang noch nicht über – dies geschah zwei Monate später in Marseille und bald darauf in Paris.
Nach ihrem steilen Aufstieg zur Nationalhymne schien die Marseillaise allerdings bald schon wieder ausgedient zu haben. Napoleon ersetzte sie nach weniger als einem Jahrzehnt, und nach der Rückkehr der Bourbonen-Könige wurde sie in Frankreich gar verboten. Ihr Schöpfer starb 1836 verarmt und kaum beachtet – vom Erfolg seines Liedes hatte er zu Lebzeiten wenig.
Erst in der 1871 gegründeten Dritten Republik kehrte die Marseillaise als Nationalhymne zurück – sie ist es seitdem geblieben. Im Ersten Weltkrieg, der beiderseits des Rheins reich an patriotischen Inszenierungen war, erinnerte man sich auch des Komponisten: Rouget de Lisles sterbliche Überreste wurden 1915 mit großer Geste in den Pariser Invalidendom überführt.
Allerdings: Die Marseillaise war von Anfang an mehr als eine französische Hymne. Auch rechts des Rheins und in ganz Europa galt sie geradezu als „Freiheitsgesang der Menschheit“ (Hermann Wendel). Sie wurde auf Deutsch und in zahlreiche andere Sprachen übersetzt und überall dort gesungen, wo Menschen für die Ideale der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – kämpften.