Der König der Züge

Morgens um 7.30 Uhr verließ der „König der Züge“ Paris. Laut Fahrplan von 1905 überquerte er nach sechs Stunden und 43 Minuten die französisch-deutsche Grenze bei Avricourt. Um halb vier Uhr nachmittags ließ er Straßburg hinter sich und überschritt unter Dampfen und Getöse den Rhein.

Ansicht der Rheinbrücke Straßburg-Kehl um 1900

Erster rechtsrheinischer Halt war Baden-Baden. Die mondäne Kurstadt war ein naturgegebener Halt für den mondänsten aller Züge – den Orient-Express. Denn dieser, der seit 1883 von Paris bis Rumänien und seit 1888 bis Konstantinopel fuhr, war vor allem eines: Luxus auf Schienen. „So wie der Transatlantikdampfer ein schwimmendes Hotel darstellt, ist auch der Zug der internationalen Schlafwagengesellschaft […] ein wirkliches Hotel ersten Ranges, und zwar ein rollendes“, schrieb 1884 die Pariser Zeitschrift „L’illustration“ über den Orient-Express. (zitiert nach Sölch, Werner: Orient-Express. Glanzzeit, Niedergang und Wiedergeburt eines Luxuszuges, Düsseldorf 1983, S. 29.) Es waren Reiche und Mächtige, nicht selten gar Könige und Prinzen, die in den teakholzverkleideten Speise- und Schlafwagen durch Europa fuhren und sich von elegant uniformierten Stewards verwöhnen ließen. Auch das war ein Grund für den Mythos, der sich rund um diesen Zug bildete. Er faszinierte selbst Zeitgenossen, die für ein Ticket einen Monatslohn hätten opfern müssen.

Von Baden-Baden aus ging es über Karlsruhe und Pforzheim nach Stuttgart. Nach knapp fünfzehnstündiger Reise erreichte der Orient-Express des Jahres 1905 die bayrische Hauptstadt, zu nachtschlafender Zeit dann Salzburg. Über Wien und Budapest ging es weiter bis Konstantinopel. Die Reise von Paris, dem kulturellen Zentrum der westlichen Welt, bis zur Hauptstadt des Osmanischen Reiches dauerte drei Tage und zwei Nächte. Gesamtlänge der Strecke: 3200 Kilometer.

Von einer Privatgesellschaft ins Leben gerufen und durch die beteiligten Staatseisenbahnen nach Kräften unterstützt, verkehrte der Orient-Express anfangs zweimal pro Woche, wegen enormer Nachfrage bald schon täglich bis Budapest und dreimal wöchentlich bis Konstantinopel. Bis 1914 waren die Staatsgrenzen, die der Zug überquerte, meist problemlos passierbar – danach begann die lange Ära der Passkontrollen in Europa, die erst mit dem Schengener Abkommen wieder endete.

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Werbeplakat von 1888

Möglich wurde der Orient-Express durch das explosive Wachstum des Eisenbahnnetzes zwischen Atlantik und Schwarzem Meer seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Schienen durchzogen auch die hintersten Provinzen, und Bahnhöfe schossen wie Pilze aus dem Boden. Voraussetzung für den Eisenbahnbau war die Industrialisierung, die wiederum die Bahn als Transporteur von Kohle und Stahl anheizte. Die anfänglich verbreitete Angst vor den „feuerspeienden Ungetümen“ legte sich schnell. Für den Historiker Thomas Nipperdey war die Eisenbahn „das mächtigste und erregendste Symbol der neuen Zeit“. Allein das deutsche Eisenbahnnetz war bis 1873 auf rund 25.000 Kilometern angewachsen, 1885 erreichte es die Länge des Äquators. Der Trend ging zur grenzüberschreitenden Vernetzung des Zugverkehrs, so auch am Oberrhein. Schon seit 1841 fuhr ein Zug von Straßburg nach Basel.

Im Ersten Weltkrieg durchschnitt die Westfront die Route des Orient-Expresses. Die Eisenbahn diente vier lange Jahre lang vor allem dem Transport von Soldaten und Kriegsmaterial. Nachdem der Betrieb des berühmten Grenzgängers über Jahre zum Erliegen gekommen war, konnte er in der Zwischenkriegszeit nach zähen Verhandlungen wieder fahren. Allerdings missfiel es den Siegermächten, dass die längst schon legendäre Bahnlinie über deutschen Boden führte. Seit 1919 brachte deshalb auch ein Zwillingszug namens Simplon-Orient-Express Passagiere von Paris gen Osten, sparte Deutschland hierbei aus und verfolgte eine Route über die Schweiz und Italien. Einige Jahre später kam der Arlberg-Express als dritte Alternativ-Route über die Schweiz und Österreich hinzu. Konstantinopel, nach wie vor der Zielpunkt des Zuges, wurde jetzt unter dem Namen Istanbul zur Metropole der modernen Türkei, die 1923 aus dem Osmanischen Reich hervorging.

Zwischen den Weltkriegen wurde auch der bleibende literarische Ruhm des Zuges begründet. 1934 erschien der Kriminalroman „Mord im Orient-Express“ von Agatha Christie – das weitaus erfolgreichste Buch, das den „König der Züge“, wie er häufig genannt wurde, zum Schauplatz hat. Die britische Erfolgsautorin wusste, worüber sie schrieb: Mit dem Orient-Express, bei dessen Anblick ihr „warm ums Herz“ wurde, war sie selbst wiederholt gereist und pries ihn in ihren Memoiren. „Ich habe schon immer eine Schwäche für Fernzüge gehabt“, schrieb sie. Und fügte hinzu: „Der Orientexpress ist mir ohne Zweifel der liebste von allen.“ (Agatha Christie: Die Autobiografie, Hamburg 2017, S. 435 sowie Dies.: Erinnerung an glückliche Tage, Bern 1997, S. 22).

Der Zweite Weltkrieg setzte der durchgehenden Verbindung von Paris nach Istanbul erneut ein Ende. Und 1945 schlug auch für den berühmtesten Zug Europas eine „Stunde Null“. Zwar fuhr er bald wieder – aber mit dem Luxus war es vorbei. Der Orient-Express verkehrte nun als gewöhnlicher Schnellzug auf der altbekannten Strecke. Beim Grenzübertritt zwischen Österreich und Ungarn passierte er den Eisernen Vorhang zwischen Westeuropa und dem damaligen Ostblock – auch hier war er Grenzgänger.

Die reale Bedeutung des Zuges begann zu schwinden – just in der Zeit, als die letzten Dampflokomotiven nach rund 40-jähriger Übergangszeit den modernen E-Loks wichen. Das romantische Zeitalter des Zugverkehrs ging zu Ende, und die Dampflok wurde zum Museumsstück. Nachdem die Strecke des Orient-Expresses seit den 1970er Jahren mehrfach verkürzt worden war – zuletzt verlief sie nur noch von Straßburg bis Wien – wurde der fahrplanmäßige Betrieb 2009 komplett eingestellt. Der Kalte Krieg und die Reisehindernisse, die er mit sich gebracht hatte, gehörten inzwischen zwar längst der Vergangenheit an. Doch man schien den „König der Züge“ nicht mehr zu brauchen. Vom alten Glanz war äußerlich wenig geblieben: man reiste zuletzt in einfachen Schlaf- oder Liegewagen; Teakholz und dienstergebene Stewards suchte man an Bord vergebens. Und dennoch war die Faszination dieses Zuges noch immer lebendig.

Der Mythos lebt ohnehin weiter. Agatha Christies „Mord im Orient-Express“ ist erst jüngst wieder verfilmt worden, ein weiteres Mal mit Großaufgebot an Hollywood-Stars. Und für eine vierstellige Summe pro Ticket geht noch heute ein Zug namens „Venice Simplon-Orient-Express“ auf Nostalgiereise – mit restaurierten Originalwaggons, aber nur gelegentlich auf der ursprünglichen Strecke via Straßburg, Baden-Baden und Karlsruhe.

Am Oberrhein hat der „König der Züge“ nur spärliche Spuren hinterlassen. Auf der Eisenbahnbrücke zwischen Straßburg und Kehl verkehren inzwischen Fernzüge wie der TGV 9575 mit Start in Paris und Endpunkt in Stuttgart oder München. Doch in Straßburg lockt noch heute eine Brasserie mit illustrem Namen: „L’Orient Express“.

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